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Jahresrückblick 2022 – Investieren in Zeiten des Zivilisationsbruchs

Ein Jahresrückblick Ende Dezember – ist das nicht etwas spät, mag der ein oder andere fragen. Dennoch, gerade noch rechtzeitig, schauen wir uns 2022 noch einmal an. Wir fokussieren uns in unserem Artikel auf das Thema, das am meisten Überraschungspotential barg und auch im neuen Jahr birgt und gehen am Ende auch noch auf den Investmentkontext ein.

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Es ist uns dabei wichtig, noch mitten in der Krise zu dokumentieren. Bei Corona haben wir gesehen, dass unsere Auseinandersetzung zum Tiefpunkt der Börsenkurse auch im Rückblick inhaltlich relativ pragmatisch und gut getroffen war. Weder wurde die damals grassierende Börsenpanik im Sinne der Prognose eines größeren, noch drohenden Crashs geteilt, noch die Krisenlösung falsch eingeschätzt.

Tja und was soll man nun zu 2022 sagen. Nach zwei Jahren Corona-Krise war die Börse eigentlich reif für ein bisschen Entspannung:

Das Jahr 2020
Das Jahr 2021
Das Jahr 2022

Wichtig anzumerken ist, dass der Russlandkonflikt an der Börse im Wesentlichen keine Rolle spielt, jedenfalls nicht direkt (dazu später). Das mag den einen verwundern und den anderen moralisch fordern; die Börse ist aber im Kern nur eine Abstimmungsmaschine über den Barwert zukünftiger Unternehmensgewinne. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist eine ältere Erkenntnis, dass Kriege als solche an der Börse generell nicht zwingend schlechte Börsenkurse bedeuten. Beinahe alle größeren Volkswirtschaften und Siegermächte hatten steigende Börsenkurse im zweiten Weltkrieg zu verzeichnen.

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Auch wir haben Ende Februar, Anfang März Putins auch nuklearrhetorischen Angriffskrieg zum Nennwert genommen. Zehn Monate später ist vom Nennwert nicht mehr viel übrig. Zwar ist es immer richtig, Atomdrohungen mit dem nötigen Ernst aufzunehmen (und obwohl das auch in der Diskurspraxis der anzutreffende Regelfall sein sollte, wird das gelegentlich grundlos abgestritten – neben vielen anderen Kuriositäten im deutschen Diskurs). Fakt ist aber auch, dass Putin sein Blatt erkennbar überreizt hat. Die russische „Eskalation zur Deeskalation“ wurde aus westlicher, einschließlich ukrainischer, Sicht in ein „calling the bluff“ gedreht. Dass Putin nun auch zu oft darauf hinweisen musste, er würde mit seinen Nukleardrohungen nicht bluffen, hat seine Position jedenfalls spieltheoretisch nicht gerade gestärkt.

Russland, ein Land, so unfassbar riesig, jedoch geopolitisch nicht wesentlich mehr als eine vergleichsweise unbedeutende Regionalmacht und das einzige von internationalem Belang sind die Atomwaffen. Kaum ein Unterschied zu Nordkorea und der Spiegel leitartikelte in der Ausgabe von Anfang März 2022 auch treffend mit dem Titel „Kim Jong Putin“. Nun mag das schon sein, dass der Westler immer ein bisschen empfindlich ist, wenn es um die Bewertung von Autokratien und Diktaturen geht. Putin zeigt aber seit Februar, dass er im Inneren eine ähnliche Brutalität durchsetzt, wie er sie in der Ukraine und davor in seinen Militärübungsplätzen Syrien und Tschetschenien gezeigt hat.

Putin, der 1997 durch eine Plagiatsdissertation einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften erlang, führte ab 1998 den Inlandsgeheimdienst FSB. Er war im August 1999 nicht einmal einen ganzen Monat Ministerpräsident (direkt im Anschluss an den Direktorenposten des Inlandsgeheimdiensts), als er (mutmaßlich) – über den Inlandsgeheimdienst – eine Serie von Bombenanschlägen inszenieren ließ. Seinen ersten Krieg (den Zweiten Tschetschenienkrieg) führte Putin bereits im zweiten Monat als Ministerpräsident, mutmaßlich, um sich vom bis dahin relativ unbekannten Politiker zum starken Mann Russlands aufzubauen, was im Rückblick gelungen ist. Schon damals griff er persönlich auf operativer Ebene in Details der Kriegsführung ein, was aktuelle Berichte, er würde selbst bis auf Offiziersebene herunter militärische Entscheidungen direkt beeinflussen, glaubwürdig macht; was von russischer Seite natürlich bestritten wird, denn Putin soll nicht für das militärische Versagen persönlich verantwortlich gemacht werden können.

Der damalige russische Präsident Jelzin (der Putin – und nicht, was damals auch im Gespräch war, Lukaschenko – bereits zum Ministerpräsidenten machte) trat zum Jahresende 1999 überraschend zurück, und Putin wurde interimsweise auch Präsident. Praktischerweise führte er Krieg und war deshalb sehr präsent in den Medien, was anderen Kandidaten erschwerte, in den Medien überhaupt stattzufinden; folgerichtig gewann er auch die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000.

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2007 ging Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz gegenüber dem Westen zum Angriff über und initiierte die vom Gorbatschow-Biografen und Historiker Ignaz Lozo formulierte „Wortbrüchigkeitslegende„, wonach die NATO angeblich im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung zugesichert hat, sich „nicht einen Zoll“ nach Osten auszudehnen. Dieser Punkt ist Gegenstand kontroverser Diskussion und wohl beiderseitig versteinerter Auffassungen dazu. Gorbatschow selbst sagte, eine solche Vereinbarung gab es nicht. Aus den Protokollen der damaligen Gespräche geht die Formulierung durchaus hervor:

And the last point. NATO is the mechanism for securing the U.S. presence in Europe. If NATO is liquidated, there will be no such mechanism in Europe. We understand that not only for the Soviet Union but for other European countries as well it is important to have guarantees that if the United States keeps its presence in Germany within the framework of NATO, not an inch of NATO’s present military jurisdiction will spread in an eastern direction.

Record of Conversation between Mikhail Gorbachev and James Baker, February 9, 1990

Die Frage ist nur, ob die Formulierung „We understand that [.,.] for the Soviet Union […] it is important to have guarantees that […]“ wirklich auch unter diplomatischen Gesprächsgepflogenheiten schon als „Zusage“ gelten kann.

Putins Traum ist seit jeher ein starkes, geeintes und unabhängiges Russland, die Kongruenz von geografischer und geopolitischer Landesgröße. Dass solcherlei von Eitelkeiten gekennzeichnete Prioritäten Leben kosten können, musste schon im Jahr 2000 die russische Besatzung des U-Boots Kursk erleben. Tagelang wurde ausländische Hilfe nicht angenommen, obwohl sie angeboten wurde; Russland allein schaffte es nicht rechtzeitig – eine auf der Weltbühne aufgeführte Peinlichkeit der russischen Seestreitkräfte.

Nach Angaben des früheren NATO-Generalsekretärs George Robertson soll Putin schon kurz nach seinem Amtsantritt Interesse an einem Beitritt Russlands zum Verteidigungsbündnis bekundet haben. Als Robertson ihm daraufhin erklärte, dass interessierte Staaten üblicherweise einen Beitrittsantrag stellen, weigerte Putin sich, dem nachzukommen und reagierte mit den Worten: „Wir stehen nicht in einer Reihe mit vielen Ländern, die keine Rolle spielen.“

wikipedia

Putins Selbst- und Russlandverständnis geht davon aus, eine relevante Rolle auf der Welt zu spielen. Freilich ist dem nicht so, mit Ausnahme der Atomkriegsdrohungen sowie Tod und Zerstörung, die Russland an verschiedene Orte der Welt gebracht hat – die in der Ukraine gegenwärtig für Russland und russische Soldaten verwendeten Spitznamen Mordor und Orks sind treffend gewählt. Putin macht Politik im Stile des Schulhofprüglers, neozaristisch, geschichtsrevisionistisch, bis hin zu faschistisch; er will die Regeln setzen und von anderen gesetzte Regeln nicht befolgen, er denkt in exklusiven Interessensphären und glaubt, dass dem Stärkeren zusteht, was er begehrt. Putin, das ist vor allem im letzten Jahrzehnt auch Außenpolitik im Stile des Feiglingsspiels („Angsthase“, chicken game). Wo Gewalt nicht mehr hilft, dort hilft nur noch mehr Gewalt. Für ihn war der Untergang der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts (April 2005) – nicht etwa die 100 Millionen Toten, die der Kommunismus brachte oder die 60 bis 80 Millionen Opfer des Nationalsozialismus.

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Man kann Wladimir Putin nicht vorwerfen, dass er verschwiegen hätte, wohin er sein Land führen will. Der Fehler liegt im Westen: Er hat einfach nicht richtig zugehört.

[…]

Zugleich hat der Kreml die Bevölkerung über Jahre ideologisch auf eine Entwicklung vorbereitet, wie wir sie nun erleben. Geschichtsbücher wurden im Sinne einer heldenhaften Geschichte Russlands umgeschrieben; Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien als westliche Agenten gebrandmarkt; die Jugend im patriotischen Geist indoktriniert. Der Staat, die Nation und das Kollektiv sollen über allem stehen.

[…]

Frühjahr 1994, Putins Auftritt in St. Petersburg. Damals reagierte die deutsche Russland-Historikerin Ingeborg Fleischhauer auf seinen Beitrag. Herr Putin habe die Anwesenden „mit seiner Vision einer urtümlich russischen Territorialbestimmung sicher überrascht“, sagte sie. Letztlich ziele er auf eine archaische Vorstellung: „Territorien, die von russischem oder von slawischem Blut getränkt sind, haben ein Recht darauf, für immer in slawischem Besitz zu bleiben.“ An Putins Worten erkenne man, dass „diese Mentalität noch wach ist“. Heute muss man sagen: Sie ist nicht nur wach, sie ist die Grundlage der russischen Außenpolitik.

Wie Putin seit Jahren seine Großmachtpläne umsetzt, faz.net

Es gab in den Anfängen der 2000er-Jahre die Hoffnung, mit Putin eher einen Partner als einen Feind gewonnen zu haben. Dabei war es nicht so, dass man die (problematische) ideologische Festigung des KGB-Offiziers nicht schon früh hätte erkennen können (Putin selbst: „Einmal KGB, immer KGB.„). Seit 2001 verbreitet er die Idee der Russki Mir, der russischen Welt, einer toxisch-ideologischen Auffassung von der russischen Identität. Bill Clinton hat schon damals gewusst, dass Putin kein Demokrat ist. Ob die deutsche Ostpolitik spätestens seit Merkel insgesamt Ausfluss grenzenloser Blauäugigkeit war oder ein pragmatischer Versuch, mit dem unvermeidbaren Fakt der russischen Existenz (teilweise) auf europäischem Boden umzugehen, ist Gegenstand kontroverser Diskussion. Keiner der Beteiligten, von Schröder, über Merkel und Gabriel bis hin zum frühen Scholz, gibt im Rückblick aber eine besonders glückliche Figur ab.

Als noch unglücklicher kann nur das gewöhnliche russische Volk bezeichnet werden, die von außen oft genug (auch im Staatsfernsehen) einen Eindruck vermitteln, der – ausdrücklich ohne das pauschalisieren zu wollen – bei atavistisch-apathisch beginnt und bei depriviert-indolent endet, und aus dem heraus oft genug maximales politisches Desinteresse zumindest einmal zu Protokoll gegeben wird – ob Russen wirklich in diesem Maße politisch desinteressiert sind, lässt sich von außen schwer nachprüfen. Ein Zustand wird also jedenfalls vermittelt, bei dem sich der materiell abgesicherte Westeuropäer fragt, warum jemand die gegebenen gesellschaftlichen Umstände ohne Aufbegehren aushält. Es scheint ein Schlüsselelement Putinscher Politik zu sein: die Überlegung, dass jemandem, der nichts hat, auch nichts genommen werden kann; dass sich also eine schier grenzenlose Leidensfähigkeit aus Verrohung und täglichem Überlebenskampf speist, angefeuert durch Propaganda aus dem Handbuch der Dreißiger Jahre.

Dazu passt, dass Putin die russischen Gene „besonders“ und „gefährdet“ nennt. Großer Handlungsmotivator ist für Putin also das biologisch Russische, das genuin-genetisch Russische. Jede biologistische Sichtweise trägt den Keim des Ausschlusses der Nichtgenuinen natürlich schon in sich. Laut Michael Khodarkovsky, Geschichtsprofessor einer Chicagoer Universität, gibt es Schätzungen, wonach aufgrund des Rückgangs ethnischen Russen und des Wachstums nichtethnischer Russen Russland um die Mitte des Jahrhunderts mehrheitlich muslimisch werden könnte. Daraus leitet Khodarkovsky ab, dass die Invasion (und die Deportation von Ukrainern und speziell ukrainischen Kindern nach Russland) in der Ukraine auch eine bevölkerungspolitische Motivation haben könnte. Zu diesem Bevölkerungswechsel, den Putin möglicherweise anstrebt, trägt bei, dass Mobilisierungsopfer vor allem disproportional den Minderheiten in Russland entstammen, die zukünftig mangels Männern insoweit keine Kinder mehr zeugen können. Vielfalt bedeutet Gefahr für Putins Vorstellung von Russland; er strebt deshalb Eintönigkeit an – faktisch durch ethnische Säuberungen.

Of the 26 areas with the highest known rates of conscription, 23 had income levels below the national average. 

Where are Russia’s newest soldiers coming from?, Economist

Das fehlende Aufbegehren führt zu mittlerweile sechsstelligen eigenen menschlichen Verlusten auf einem Schlachtfeld, das schon strategisch falsch gewählt und dann (glücklicherweise) auch noch ganz praktisch mit der typisch sowjetischen Unzulänglichkeit bearbeitet wurde. Die Banalität des Bösen? Wessen Lebensbedürfnisse in der Maslow’schen Bedürfnispyramide ganz weit unten stehen, protestiert nicht gemeinsam für bessere Lebensbedingungen – so könnte man meinen. Doch das ist ein Trugschluss. Bereits die russische Revolution von 1917 ging auf die fehlende Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, vor allem Brot, zurück und stürzte den letzten russischen Zar. Die intuitive Antwort auf den ausbleibenden Protest gegen den niedrigen russischen Lebensstandard wäre wohl die Brutalität des Regimes; eine abschließende Antwort bleibt jedoch offen.

„Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz; wer sie sich zurückwünscht, keinen Verstand.“

PATH TO POWER: Putin Steering to Reform, But With Soviet Discipline, New York Times, 20. Februar 2000

Das russische Staatsfernsehen fördert die staatliche Propaganda nach Kräften. Empfohlen an dieser Stelle sei das ARTE-Format tracks east – Fake News sowie der Twitter-Kanal der US-Journalistin Julia Davis. So erfährt man beispielsweise, dass eine deutschrussische Propagandainfluencerin, gegen die in Bayern ermittelt wird, im Oktober 2022 in München bei Außentemperaturen von 18 Grad mit einem dicken Mantel für das russische Staatsfernsehen beklagt, dass sie friert, weil der Gas-Heizkessel angeblich wieder die ganze Nach nicht geheizt hätte. Generell wird auf eine starke Emotionalisierung gesetzt, ähnlich dem deutschen Privatfernsehen, aber in Gänze hemmungslos in Bezug auf Inhalte und Zivilisiertheit. Russlands Propaganda wirkt nicht nur nach innen, sondern ist auf die Destabilisierung demokratischer System weltweit gerichtet: mindestens 300 Millionen Dollar wurden seit 2014 dafür ausgegeben.

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Dass Russland im von Putin angestrebten Drei-Tage-Krieg nun die Dreihunderttagemarke überschritten hat, belegt vielerlei Unerwartetes. Wie sehr sich westliche Beobachter in Bezug auf die Fähigkeiten der Ukraine verschätzt haben, auch regelmäßig am deutschen Diskurs teilnehmende, die sich nun Monate später quasi entschuldigen müssen für voreilige Schlüsse. Wie sehr Russland die Ukraine in jeder Hinsicht unterschätzt hat. Wie stark Putin sich auch international verschätzt hat. Russisches Urals-Öl nähert sich einem zu gewährenden Abschlag von 40 USD auf den Marktwert von Brent-Öl (obwohl viele, die sich seit Monaten vor allem aus der Wirtschaft zu Wort melden, in erstaunlicher Eindeutigkeit zu wissen glauben, dass die Sanktionspolitik „nichts bringen“ würde; dabei dürfte es derzeitig wenig schwierigere Fragen als genau diese geben, da Russland ja wesentliche Wirtschaftsstatistiken suspendiert hat – warum eigentlich?).

Unruhen in Kasachstan und ein kasachischer Präsident, der sich sichtbar von Russland abwendet. Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan. Konflikte zwischen dem russlandnahen Serbien und Kosovo. Unruhen in Usbekistan und neuerdings Distanz zu Russland in Handelsfragen. Konflikte zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Die Postsowjetzone um Russland herum brodelt unkontrolliert und Putin wird im Fernsehen gezwungen, auf chinesische „Bedenken“ zum Ukraine-Krieg zu reagieren, dazu Bedenken auch von Indien. Daneben hat Russland einen guten Teil seiner Berufssoldaten verloren, muss nun auf Gefängnishäftlinge (sicher auch in vorgenanntem Säuberungskontext zu sehen) und (offiziell in Russland verbotene) Söldnergruppen setzen – neben dem Verheizen der militärisch schlecht ausgebildeten Nachmobilisierten. Putin wollte keine NATO-Präsenz im eigenen Interessenraum (d.h. praktisch allen Nachbarländern) und bekommt nun die NATO in Finnland und Schweden. Der Chef des 5. Dienstes des russischen Inlandsgeheimdienstes musste gehen, weil er den Kreml mit Falschinformationen in Bezug auf die militärischen Voraussetzungen der Invasion versorgte – was u.a. zu der Fehlannahme verleitete, die russische Armee würde in der Ukraine von der Bevölkerung mit Blumen als Befreier empfangen werden.

Kommen wir nach diesen einleitenden Worten deshalb schrittweise mehr zur Gegenwart und dem Umfeld, in dem sich Kapitalanleger nun bewegen.

To everyone who finds the current investment climate hard and difficult and somewhat confusing, I would say: Welcome to adult life.

Charlie Munger warns Gen Z investors, CNBC

Rein zeitlich war der politische Verlauf der letzten Zeit von Russland nämlich wirklich nicht schlecht orchestriert. Die Welt ging mit dem Beginn des Jahres 2020 coronabedingt in den wirtschaftlichen Notfallmodus. Es traf zwar auch die russische Wirtschaft, aber auf niedrigem Niveau und der Stellenwert eines Menschen, d.h. auch eines gesunden Menschen, ist im Putin-Russland fraglos ein anderer als in westlichen Gesellschaften, die folglich wesentlich schwerer von der Wucht der Bewältigung der Gesundheitskrise getroffen wurden. So führte die katastrophale russische Propaganda zu einer Verschlimmerung der Lage, die sich in einer mehr als vierfach höheren Sterblichkeit verglichen mit Deutschland ausdrückt. Der Westen musste den aus Pandemiemaßnahmen resultierenden Wirtschaftseinbruch dagegen mit gigantischer Staatsverschuldung ausgleichen.

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Eine Wirtschaftskrise allein ist aber noch nicht zwingend ein Problem. Zum Problem wird eine solche erst, wenn es Zentralbanken und Staaten an Handlungsspielraum mangelt. Und dies ist ein letztlich seit der Finanz-/Euro-/Staatsschuldenkrise ein ungelöstes Problem. Bereits in 2021 lief die Weltwirtschaft wieder an, nachdem Ende 2020 die ersten Impfungen möglich waren, und die Richtung damit wieder stimmte. Anfang 2021 gab es bereits eine umfassende Diskussion zur drohenden Inflationsrate des Jahres 2021, schon damals wurde von 3 bis 5 Prozent alles diskutiert. Inflation erzwingt aber Zinsanhebungen und hier lag das Problem. Folglich musste Russland ein Interesse daran gehabt haben, die Inflation zu fördern, um den politischen Frieden in Europa zu stören und die anfälligste Volkswirtschaft Europas (Deutschland) direkt anzugreifen.

Die derzeitige für die Geldanlage relevante Phase bettet sich ein in den oben dargestellten geschichtlichen und politischen Rahmen und wird in jüngerer Zeit u.E. vor allem durch die Ereignisse der Jahre 2013 und 2014 in der Ukraine bestimmt. Auslöser für die damaligen Euromaidan-Proteste war die überraschende Ankündigung der ukrainischen Regierung, auf Druck Russlands das ausgehandelte EU-Assoziierungsabkommen nicht unterschreiben zu wollen. Die offenbar ausgeprägte Westorientierung jedenfalls der Hauptstadtbevölkerung bzw. der West- und Zentralukraine führte zu monatelangen Protesten, infolgedessen Ex-Präsident Janukowitsch abgesetzt wurde und nach Russland fliehen musste.

Infolge des Machtverlusts Janukowitschs wurde von Putin die Entscheidung getroffen, Fakten zu schaffen und sich die Krim einzuverleiben. Der Machtverlust Janukowitschs war gleichzeitig auch ein Machtvakuum der neuen ukrainischen Regierung in Bezug auf die Ostukraine und die Krim. In den folgenden Jahren flammten die Konflikte mal auf, mal wurden sie durch brüchige Vereinbarungen eines nicht vertragsbindungswilligen Russlands zeitweise gestillt. So sehr Russland diese Schwebezustände des unregierbaren Chaos in angrenzenden Nachbarländern mag, so sehr wollte Putin anscheinend gleichzeitig auf dem Weg der Beseitigung der globalen US-Hegemonialität vorankommen. Putin wusste, dass der Dollar als Weltwährung für den Ölhandel für ihn ein Problem darstellt.

So begann er im Dezember 2018 damit, dass Öllieferungen in Euro und nicht mehr in Dollar zu bezahlen waren. Allerdings, und das sah man in 2022, ist es aufgrund des politisch einigen Blocks weitgehend irrelevant, ob in Dollar oder in Euro abgerechnet wird. Ab dem zweiten Quartal 2018 beschloss Russland, seine Devisenreserven massiv von Dollar in Euro umzuschichten. Russlands Nachteil dabei ist, dass es wenig Alternativen zur Reservewährung Dollar gibt. Zwar kann man in Euro wechseln, hat dann aber im Wesentlichen dieselbe politische Gegenseite. Man kann in Gold wechseln, das aber physisch begrenzt ist. Man kann in Yuan wechseln, allerdings ist China nur gering auslandsverschuldet, sodass es wenige Yuan-Reserven zu kaufen gibt.

Ob diese Maßnahmen wirklich nur Reaktionen Russlands auf die US-Sanktionspolitik waren oder eher die Grundlage für die Zukunft geschaffen haben, ist unklar. Dem Anschein nach gab es in 2018 aber größere politische Entscheidungen. Die strategisch außerordentlich wichtige Kertschbrücke zwischen Russland und der Krim wurde ab 2015 gebaut und im Mai 2018 für den Straßenverkehr freigegeben. Die für die russische schienenzentrierte Militärstrategie existenziell wichtige Eisenbahnbrücke folgte im Jahr Dezember 2019. Im März 2018 wurden außerdem Hyperschallwaffen vorgestellt, die allerdings aus westlicher Sicht weitgehend bedeutungslos sind, was (bis dato) auf dem Schlachtfeld auch ersichtlich ist.

Mit Abschluss des Jahres 2019 hatte Putin also eine strategisch wichtige Voraussetzung für die – aus russischer Perspektive – Lösung der Ukrainefrage geschaffen. Putin war aber noch nicht ganz am Ende und so dürfte Corona seine Pläne jedenfalls in der ersten Jahreshälfte 2020 nicht wirklich durchkreuzt haben. Putin hat in der ersten Jahreshälfte 2020 geschickterweise eine Verfassungsreform durchgesetzt, die ihm quasi lebenslanges Präsidentenrecht (bis 2036) gibt. Niemand sollte daran zweifeln, dass auch 2036 noch einmal verlängert werden könnte und niemand sollte daran zweifeln, dass Putin die Nordkoreanisierung des Herrschaftssystems Russland damit abgeschlossen hat. Putin wird erst gehen, wenn er von der tatsächlichen Lage dazu gezwungen wird.

Im September 2020 überarbeitete die Ukraine ihre nationale Sicherheitsstrategie, priorisierte westliche Partner und formulierte den Anspruch, den Preis für etwaige russische Aggressionen zu erhöhen. Im November 2020 wird Trump abgewählt, im Januar 2021 kündigt Angela Merkel an, nicht mehr als Kanzlerin zu kandidieren. Eine dramatische Beschleunigung des Konflikts scheint die Verhaftung von Viktor Medvedchuk, eines ukrainischen Politikers und Oligarchen, im Februar 2021 gewesen zu sein. Medvedchuk war Führer der größten prorussischen Partei in der Ukraine. Patenonkel seiner Tochter ist Wladimir Putin. Mit der Verhaftung einher gingen die Einfrierung verschiedener Vermögenswerte, u.a. einer Pipeline, sowie die Schließung seiner prorussischen TV-Sender. Putin weiß wie Schröder, dass ein Land mit Bild, Bams und Glotze regiert wird – also über Medien. Russland drohte einen Einflusskanal nach dem anderen zu verlieren, nachdem der Gesetzgeber bereits seit Jahren einen Vorrang des Ukrainischen gegenüber dem Russischen festgelegt hat. Russland war dabei, die soft power in der Ukraine vollends zu verlieren – dies aber machte eine politische Lösung unmöglich.

As the talks progressed through January, Russians came to believe they had the upper hand as long as they could keep up the military pressure on Ukraine. “It’s the perfect time to make some trades, to get sanctions removed, to talk about security concerns,” says the Kremlin insider, who agreed to discuss the negotiations on condition of anonymity. “The logic is simple,” the source adds. “If we don’t put a lot of fear into them, we will not get to a clear solution, because that’s just how the Western system works. It’s very hard for them to reach a consensus on something. All those moving parts, all those checks and balances, each one pulling in different directions. So the aim is to present a threat of such massive consequences that it forces everyone on that side to agree.

The Untold Story of the Ukraine Crisis, time.com

Nur zwei Tage nach der Verhaftung Medvedchuks verlegte Russland 3.000 Fallschirmjäger an die russisch-ukrainische Grenze für großangelegte Übungsmanöver. Im März 2021 folgten Panzer; Selenski erlässt am 24. März ein Dekret zur Umsetzung einer Strategie zur Deokkupation der Krim und zur Vorbereitung der Wiedereingliederung in die Ukraine; das Weiterregieren Putins über die gesetzliche vorgesehene Amtszeit hinaus wird von der Staatsduma legitimiert.

Üblicherweise füllen die Betreiber zwischen Frühjahr und Herbst die Speicher auf. Dann ist das Gas billiger. Im Winter, wenn die Preise üblicherweise steigen, wird das gespeicherte Gas bei Bedarf eingesetzt. Die Füllstände sind öffentlich einsehbar. Aus der Statistik geht hervor: Der Füllstand bleibt im Speicher der Gazprom-Tochter in Rehden von April 2021 an weitgehend auf dem gleichen, niedrigen Niveau. Das bedeutet: Bereits vor knapp einem Jahr wurde allem Anschein nach die Entscheidung getroffen, fast gar nicht nachzufüllen. „Da hätte man also spätestens dann sich schon wundern können, was für ein strategisches Ziel dahinter liegt“, so Huneke.

Manipulierte Russland die Gaspreise?, 15.03.2022, tagesschau.de

Den ganzen Sommer über forderten Putin und Gazprom Europa auf, langfristige – abhängig machende – Gaslieferverträge mit Russland zu schließen, anstatt auf die „unsicheren“ und volatilen Spot-Märkte zu setzen. Russland verknappt in der Folge massiv die Gaslieferungen nach Europa und verteuerte so die Gaspreise künstlich. Da in Europa marktdesignbegründet alle Energieträger sowie Strom austauschbedingt miteinander korrelierten, stiegen in der zweiten Jahreshälfte auch die Preise aller anderen Energieträger (Heizöl, Brennholz) sowie Strom an. Wenn aber alle Energiepreise ansteigen, gibt das einen massiven Inflations-Push. In der Presse wurde die Gaspreismanipulation als Mittel zur Erzwingung der Nordstream-2-Zulassung interpretiert. Jedenfalls dürfte es in 2021 den Versuch gegeben haben, Europa mit der Brechstange in die Abhängigkeit zu treiben bzw. das zukünftige Sanktionstragfähigkeitspotential in Europa zu reduzieren. Nordstream 2 wurde gar nicht erst zugelassen und musste so auch nicht aktiv „abgestellt“ werden – was politisch beim inländischen Verbraucher schwer zu verkaufen gewesen wäre. Nordstream 1 lief aber so lange weiter, bis Russland den Hahn zudrehte.

Es stellt sich allerdings die Frage, warum der von Moskau dermaßen kritisierte europäische Börsenhandel mit Gas jahrelang reibungslos funktionierte und lediglich in diesem Sommer zuerst aus dem Gleichgewicht geriet und dann, im September und Oktober, praktisch kollabierte. Denn wenn sich der Preis binnen weniger Wochen vervielfacht, dann ist das ein Kollaps des Marktes. […] Warum aber ist Russland, das nahezu 40 Prozent der EU-Gasimporte gewährleistet, in dieser Situation seiner Verantwortung als Marktführer nicht gerecht geworden? Gazprom hätte das Angebot am europäischen Spotmarkt erhöhen können, um die stark gestiegene Nachfrage wenigstens teilweise zu befriedigen – und dabei noch richtig gutes Geld zu verdienen.

Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?, 14.10.2021, dw.com

Spätestens ab dem 6. August 2021 manipulierte Russland die europäischen Energiemärkte. Politico sprach schon damals vom „Gaskrieg“ und auch die US-Energieministerin konnte dies erkennen und artikulieren. Dies ist deshalb brisant, weil wie schon beschrieben, die Inflationskurve nach oben zeigte. Dies wurde bis Jahresende im Wesentlichen auch durch Russland massiv gefördert. Die unerwartete hohe Inflationsrate ist also gerade nicht das Produkt des „Gelddruckens“ der EZB, sondern Ausdruck von Post-Corona-Wiederanlaufeffekten und russischer Manipulation der für die Inflationsrate ganz maßgebenden Energiemärkte. Die wie oben dargestellt miteinander verflochten sind, unvorhergesehene Preisspitzen in einem Energieträger beeinflussen also die Preise aller Alternativenergieträger gleichzeitig. Russland wusste, dass Zinsanhebungen in Europa politisch brisant sind, auch dies war ein weiterer Baustein in der multiplen hybriden Kriegsstrategie Russlands. Russland weiß, welche Macht Energiepreise haben – denn u.a. daran ist die Sowjetunion letztlich zerbrochen, Putins Trauma.

Im Juli 2021 folgte der berühmt-berüchtigte Artikel des Laienhistorikers Putins zur historisch begründeten Einheit der russischen Völker, die schon damals nach Ansicht einiger Beobachter die notwendigen ideologischen Voraussetzungen für einen Krieg schuf. Im Rückblick wird deutlich, dass das (im Gefolge der Putin-Narrative) westliche Gerede von NATO-Osterweiterung, Sicherheitsgarantien und angebliche Bedrohungen nicht die Kriegsgründe waren. Sondern der drohende Kontrollverlust und neozaristische, revisionistische Wiedervereinigungsfantasien. Die Ukraine sollte in der Kreml-Diktion ja nicht erobert werden, sondern als schon immer russisches Gebiet nur „zurückgeholt“ werden. Eigenstaatlichkeit wurde zu „Nationalismus“ umdeklariert, das Streben nach Unabhängigkeit von Russland als „Nazismus“.

Die Entscheidung für einen Krieg scheint aus Sicht des unbedarften Beobachters (d.h. aus unserer Sicht) zwischen Ende Februar und dem zweiten Quartal 2021 gefallen zu sein. Zugleich gab es im August 2021 reale Pläne, einen Krieg mit Japan um die Kurilen zu beginnen. Propaganda und Truppenaufbau intensivierten sich im Laufe des Jahres 2021 immer weiter und erreichte über 100.000 Soldaten über die gesamte Länge der russisch-weißrussisch-ukrainischen Grenze herum über die Krim bis hin nach Transnistrien. Der Aufmarsch und die sog. „Übungen“ dürften die Generalprobe gewesen sein, für das, was folgte. Umso erstaunlicher sind einzelne Berichte, dass selbst im russischen Geheimdienst oder unter den Soldaten angeblich völlige Unkenntnis über den bevorstehenden Krieg herrschte. Im Juni bzw. September 2021 wurden die Nordstream-2-Röhren fertiggestellt. Im Oktober 2021 stoppt Russland den Ölverkauf auf dem europäischen Spot-Markt. Im November 2021 dementierte der Kreml einen bereits existierenden Angriffsplan. In sozialen Medien hat sich nach der Invasion das Meme „Glaube nichts, bevor es nicht vom Kreml dementiert wurde.“ herausgebildet. Ebenfalls im November 2021 schickt Russland Geheimdienstagenten in die Ukraine, um Vorbereitungen zu treffen, das Atomkraftwerk Tschernobyl möglichst ohne Widerstand einnehmen zu können.

Russland hat immer geglaubt, Deutschland in der Hand zu haben; so wie es auch geglaubt hat, die Ukraine wäre nach drei Tagen eingenommen. BASF hat im Jahr 2015 im Gegenzug für Anteilsrechte an Erdgasfeldern in Sibirien ein Viertel der deutschen Erdgasspeicher an den russischen Staatskonzern Gazprom verkauft, darunter Rehden, ein Gasspeicher, der 22 % der deutschen Speicherkapazität bietet.

Die Übernahme eines großen Teils der deutschen Speicher durch die russische Gazprom war früher auf Vorbehalte deutscher und europäischer Politiker gestoßen, die eine noch größere, einseitige Abhängigkeit von russischen Energielieferungen befürchteten. Im Verlauf der Debatte wurde immer wieder auch die Einrichtung einer strategischen deutschen Erdgas-Reserve nach dem Vorbild der Mineralöl-Bevorratung gefordert.

Die Bundesregierung lehnte die Einrichtung einer solchen Reserve jedoch mit Verweis auf den liquiden Weltmarkt für Erdgas ab.

BASF verkauft alle deutschen Gasspeicher an Russen, 04.09.2015, welt.de

Zum Gasspeicher-Deal meinte der mittlerweile zum Russlandkonflikt als Experte schlaumeiernde Sigmar Gabriel, dass „gegen den Tausch aus Sicht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie keine energiepolitischen Bedenken“ bestehen. Nicht nur „geringe“, sondern ausdrücklich „keine“. Absolute Worte sind meist schwierig.

Der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel von der SPD erklärt, heute wüssten es „natürlich alle besser“. […] Allerdings: Öffentliche Kritik an der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieimporten gab es sowohl in der Europäischen Union als auch in den USA seit Jahren. 

Manipulierte Russland die Gaspreise?, 15.03.2022, tagesschau.de

Auch die seit 2005 die Geschicke des Landes lenkende ehemalige Bundeskanzlerin kann in mittlerweile mehreren Interviews nach der Zeitenwende nur auf zögerlichste Weise politische Fehler entdecken. Im Rückblick stellt sich auch die Frage, wie unabhängig jemand einen Friedensprozess zwischen zwei Ländern vermitteln kann, wenn der Vermittler selbst eklatant abhängig von einem der Länder ist und sich das „Klima mit Russland gefährlich verschlechtern“ könnte, wenn eigene Positionen bzw. Interessen durchzusetzen wären. Es geht dabei nicht darum, jemanden wegen Entscheidungen der Vergangenheit zu verdammen. Aber die Zukunft kann nur auf der Basis einer ehrlichen Bestandsaufnahme gestaltet werden und es ist niemandem geholfen, in Verdrängung zu verfallen oder zu verharren.

BASF mag ein extremes Beispiel dafür sein, wie man jahrzehntelang Geopolitik ignoriert. Aber auch viele andere deutsche Konzerne denken viel zu wenig in globalen Zusammenhängen.

Bernd Ziesemer, „Blind für die Geopolitik“ in der Kolumne Deja-vu, Capital 5/2022

Die Deutsche Bank war Putins Bank.“ schreibt das ZDF zur Josef-Ackermann-Doku „Zeit der Gier“. Der russische Diktator forderte aktiv eine Russlandpräsenz der Deutschen Bank ein. Russland war massiv beim Betrugssystem Wirecard involviert und protegiert Jan Marsalek bis heute. Man könnte meinen, Russland hätte nichts anderes zu tun, als in der ganzen Welt herumzustänkern. Ein Land als Geheimdienstbüro mit angeschlossenem Armutsstaat.

Zusammengefasst gestaltete sich die Situation so, dass mit Merkel die wichtigste Führungsfigur Europas im Jahr 2021 deaktiviert war, Trump, als emotional beeinflussbarer und intellektuell Myoper, war abgewählt. Deutschland als wichtigste politische Nation Europas war energiepolitisch gänzlich abhängig von Russland. Europas Energiemärkte sind besonders anfällig für schnell steigende Beschaffungskosten, weil Energieunternehmen über Derivate Energie zu festen Preisen verkaufen, die noch nicht beschafft wurde (Margin Calls). Die Kertschbrücke stand, die Nordstream-Röhren als Abhängigkeitskatalysator waren fertiggestellt. Russland hatte noch vor den USA Hyperschallwaffen entwickelt (deren Nutzen noch offen ist), die USA hängen in der Hyperschallverteidigung hinterher – sind also theoretisch angreifbar geworden.

Russland nahm aufgrund von Fehlern des eigenen Geheimdienstes an, die Ukraine würde in drei Tagen eingenommen sein, dabei von der Bevölkerung mit Blumen empfangen zu werden und über den Zustand der ukrainischen Armee zutreffend informiert zu sein. Die (auf dem durch den monatelangen Truppenaufbau sabotierten Überraschungsmoment aufbauende) Blitzkriegsthese machte auch Überlegungen Russlands über eine mögliche Reaktion des Westens a priori entbehrlich – und Deutschland hat mit seiner (genau auf die Aussichtslosigkeit von Hilfeleistung gestützten) anfänglichen Zögerlichkeit nach Kreml-Lehrbuch reagiert.

Es gab ein Zeitfenster signifikant steigender Inflationsraten mit den entsprechenden politischen Zinsrisiken, die Russland weiter nach oben manipulierte, um den Schaden und das Destabilisierungspotential zu vergrößern. Der Westen hat sich aufgrund der Corona-Pandemie stark verschulden müssen. China als bedeutender Absatzmarkt befand sich in der selbstgewählten Zero-Covid-Flaute. Auch Russland ist bewusst, dass die westliche Welt weg von fossilen Energieträgern will. Dem russischen Geschäftsmodell droht also langfristig die Grundlage zu entgehen – daran ändern auf sehr lange Sicht auch China und Indien nichts, die (aus heutiger Sicht) ebenfalls perspektivisch von fossilen Energieträgern wegkommen werden. Der Invasionszeitpunkt war also einmalig günstig; Russland war – auf dem Papier – genau jetzt dazu fähig, in die Ukraine einzumarschieren.

„Der Krieg in der Ukraine bedeutet nicht das Ende der Globalisierung überhaupt, aber sehr wohl das Ende der Globalisierung für Russland.“ – Ian Bremmer, Chef der Eurasia Group

Capital, Ausgabe 5/2022

Russland vertritt geopolitisch die Auffassung, dass die globale Front zwischen Russlands Interessensphäre und der restlichen (i.S.v.: der westlichen) Welt dort verläuft, wo der Westen überhaupt dagegenhält (bezogen etwa auf die Wagner-Söldner in Afrika). Russland spielt Age of Empires in der realen Welt. Dabei hat es Russland mit Gegenspielern unterschiedlicher Qualität zu tun. Während die USA vor dem Krieg in der Ukraine Wochen vorher eindringlichst warnten, musste der Chef des Bundesnachrichtendienstes am 25. Februar 2022 aus Kiew evakuiert werden, weil er vom russischen Angriff „überrascht“ wurde. Stärker kann man Schwäche nicht illustrieren.

Klar ist, dass China und Indien kurzfristig russische Energie abnehmen – zu lediglich für sie günstigen Konditionen. Allerdings müssten China und Indien auch einen zusätzlichen Bedarf haben, damit es in der Folge nicht zu einer bloßen Reallokation von Angebot und Nachfrage bzw. Umgestaltung der Lieferketten kommt. Was China und Indien von Russland kaufen, kaufen sie nun möglicherweise nicht mehr bei anderen Produzenten. Insbesondere Indien will sich jedoch die guten Beziehungen zu den Golfstaaten nicht kaputtmachen (vgl. Capital 6/2022). Und zu China gibt es nur eine einzige Pipeline minderer Förderkapazität, die zudem 25 Milliarden Dollar gekostet hat und zehn Jahre Bauzeit hinter sich hat. Mit der Pipeline verdient Russland bis heute kein Geld. Es bleibt als Alternative für Russland nur der – teure – Schiffsverkehr.

Die Gelegenheit war also günstig für Russland. Das bisherige militärische Ergebnis zeigt aber nur eins: die gewaltige Divergenz zwischen gewollter und gefühlter Größe und der effektiven Größe, die sich allein aus Atomwaffen speist. Russland mag auf dem Papier viele Menschen und noch viel mehr Material haben. Russland kann, soweit bisher ersichtlich, aufgrund der vielfältigen Systemmängel im Putinismus aber die nominelle Überlegenheit nicht in reale Überlegenheit übersetzen. Wie die Lösung des Russlandkonflikts am Ende aussehen mag, das kann kontrovers diskutiert werden – und überlassen wir dem Jahr 2023.

Fazit

Das Jahr 2022 ist Geschichte, ein Jahr, auf das man gut und gerne hätte verzichten können. Nach der „Kernschmelze des Finanzsystems“ im Jahr 2008 folgten Staatsschulden- und Euro-Krise, der amerikanisch-chinesische Handelskrieg 2018, die schlimmste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise mit der Corona-Krise 2020. Nun also auch die Fortsetzung des überwunden geglaubten Kalten Kriegs, der mitten in Europa heiß wurde.

Diese Krise, die im Kern wie beschrieben keine Börsenkrise ist, zwingt auch zu einer höchst aufschlussreichen Auseinandersetzung mit althergebrachten Ansichten und Einstellungen zu Russland. Wir gehören bekanntlich nicht zu den Blogs, die die plumpen, einfachen Lösungen propagieren; die deshalb es auch nicht bei kurzen Texten belassen können. Die beste Voraussetzung für erfolgreiches Investieren ist zunächst einmal das Streben nach einem möglichst unverzerrten Weltbild (was allein natürlich schon eine Lebensaufgabe ist). Deutschland ist aus der Nachkriegs- und Nach-Wende-Narkose unvermittelt aus dem Schlaf gerissen worden. Dabei ergab sich, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten an strategischer Weitsicht (Bundeswehr, Energiemärkte) und einer realistischen Einschätzung (Russland als wirtschaftlich zuverlässiger Partner statt als evidenter militärischer Aggressor und selbsternannter Systemgegner) mangelte. Kurios ist, dass in Deutschland die Auffassung vorherrscht, Deutschland bzw. NATO-Gebiet wäre nicht angegriffen worden bzw. wird nicht angegriffen. Was aber anderes als (hybride) Kriegsführung sind längst existente Cyber-Attacken oder der oben kurz angesprochene millionenschwere Informationskrieg Russlands im Ausland? Ist die Manipulation von Preisen existenzieller Rohstoffe in erpresserischer Absicht noch Durchsetzung eigener Interessen oder eigentlich ein kriegerischer Akt? Es ist kein heißer militärischer Krieg, aber ansonsten tobt seit Längerem der unsichtbare Krieg um Einfluss, Stabilität und Interessensphären.

Was macht man nun aus alledem als Anleger? Wie beschrieben ist der Krieg als Krieg an sich nicht börsenrelevant. Relevant sind die Rückkopplungseffekte. Die Änderung von Energielieferketten. Die Preisniveausteigerungen, die als Inflation Zinsanhebungen nach sich ziehen. Aus unserer Sicht hat Russland zumindest insoweit sein Pulver zunächst verschossen. Weitere russlandinduzierte Energiepreissteigerungen sind aus unserer heutigen Sicht nicht zu erwarten. Die Öl- und Gaspreise, auch der Strompreis, befinden sich im Rückwärtsgang. Interessant wird noch der nächste Winter. Olaf Scholz preschte hierzu bereits mit der überraschenden Aussage vor, es sei nichts zu befürchten, wenn nichts Unvorhergesehenes eintrete.

Die Inflation wird aus unserer Sicht nicht bei 10 % verharren. Wir werden einen graduellen Rückgang sehen. Unseres Erachtens möglicherweise sogar eher noch in Europa als in den USA. In den USA kommt die Preissteigerung aus der eigentlichen Inflation, nämlich der noch moderaten Lohn-Preis-Spirale aufgrund der wirtschaftlichen Stärke und der Robustheit des Arbeitsmarkts, angeschoben von den massiven Corona-Stimulierungen. In Europa kommt sie allerdings aufgrund der hohen Energiebeschaffungskosten, die längst drastisch im Rückwärtsgang sind. Moderate Tarifabschlüsse machen Hoffnung.

Mit der absehbar sinkenden Inflation ist es aber – der Russlandkonflikt als unabsehbaren Faktor zunächst einmal außer Betracht – nur eine Frage der Zeit, bis der Zinserhöhungszyklus sein Maximum erreicht. Wir würden davon ausgehen, dass die Zentralbanken (v.a. die Fed) die Zinsen zu lange zu hoch lassen. Problematisch ist nämlich, dass die eigentlichen Preissteigerungen keine gleichbleibend hohen Zinsen rechtfertigen würden, dass diese aber aus Volcker-Effekt-Gründen lange oben bleiben müssen, um die Inflationserwartungen der Verbraucher und die Gehaltssteigerungserwartungen der Arbeitnehmer zu brechen. Weil wir vermuten, dass die Zinsen zu lange zu hoch bleiben, dürften sie im Anschluss massiv gesenkt werden, um die dadurch beschädigte Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Allerdings ist dies alles nicht als Prognose zu verstehen, sondern als Ableitung aus dem heute Bekannten, als Arbeitshypothese ohne Anspruch auf tatsächliche Verwirklichung.

Kurios erscheint uns die von manchen formulierte Auffassung, die Inflation würde sich nun längerfristig auf einem höheren Niveau einpendeln, also z.B. etwa bei 4 %. Wie schon beschrieben, besteht auf unserer Seite kein Zweifel daran, dass die Zentralbanken entschlossen agieren werden, um die Inflation in den Zielbereich zurückzuführen. Im Zweifel ist das ein Austausch Inflationsbekämpfung gegen wirtschaftlichen Schmerz. Wer also für dauerhaft 4 % Inflation plädiert, müsste auch einmal begründen, warum er der Ansicht ist, dass die Zentralbanken nicht agieren werden oder agieren können. Auch übersehen wird, dass der Euro seit seinem Bestehen auch mit den aktuellen Inflationszahlen im Schnitt über zwei Jahrzehnte exakt bei 2 % p.a. Inflationsrate ausläuft. Weder kann nun also behauptet werden, die Geldpolitik der Zehner-Jahre wäre dysfunktional gewesen, noch dass die aktuellen Inflationsraten eine besondere Instabilität des Euros spiegeln. Im Gegenteil hat die EZB im langfristigen Schnitt genau das erreicht, was sie angestrebt hat. Die Minderinflation der Zehner-Jahre wird nun durch eine temporäre Mehrinflation ausgeglichen. Richtig ist aber, dass echte Preisstabilität das überragende Ziel bleiben und sein muss, also schleunigst 2 % auch auf laufender Basis wieder erreicht werden sollten.

In Bezug auf Anlageklassen bleiben wir bei unserer Auffassung, dass Aktien immer die beste Variante sind. Auch im Inflationsumfeld bleibt die Aussage richtig, dass Aktien über Jahrhunderte (!) die höchsten realen (d.h. unter Neutralisierung von bloß nominalen Preissteigerungseffekten) Renditen erwirtschaften. Anleihen sind deshalb lediglich vordergründig eine Alternative – die Realrenditen (Nominalrendite abzgl. Inflationserwartungen) sind nämlich lausig bis grausig. Immobilien als Geldanlage beginnen gerade, sich der mathematischen Realität zu beugen, also eine Abzinsung zukünftiger Erträge mit höheren Marktzinsen vorzunehmen, die c.p. zu sinkenden rechnerischen Werten führen, wenn Mieten nicht jedes Jahr mit der Inflationsrate erhöht werden können (was z.B. bei deutschen Wohnimmobilien nicht geht). Dies muss aufgrund der bekannten Rigiditäten („in Aktien kann man nicht wohnen“) nicht zeitnah zu tatsächlich stärker fallenden Immobilienpreisen führen – die Vermutung spricht aber eher dafür.

Wir haben 2022 in den Zeiten höchster Anspannung zeitweise mit Optionen das Depot abgesichert, sind aber grundsätzlich unabgesichert unterwegs. Verkauft haben wir im Wesentlichen nicht viel, im Gegenteil haben wir die verschiedenen Kursrückgänge genutzt, um Zukäufe durchzuführen. Insoweit also absolut nichts Neues. Sollten das obengenannte Zinsplateau auftreten und sogar Zinssenkunden absehbar werden, würden wir mit deutlich steigenden Aktienmärkten in 2023 rechnen. Die große Unbekannte bleibt Russland.

Ansonsten wünschen wir allen Lesern einen friedvollen Jahreswechsel und ein hoffnungsfrohes Jahr 2023.

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19 Gedanken zu „Jahresrückblick 2022 – Investieren in Zeiten des Zivilisationsbruchs“

  1. „wenn Mieten nicht jedes Jahr mit der Inflationsrate erhöht werden können (was z.B. bei deutschen Wohnimmobilien nicht geht)“ – doch, dies geht und ist sogar im BGB geregelt.

  2. Lese zum ersten Mal hier. Es hat sich wirklich jemand viel Mühe gemacht und Zeit darauf verwendet, unter Invest-Aspekten die aktuelle Situation zu analysieren und seine Sicht dazu darzulegen. In den deutschen Blogs findet man nicht mehr viel mit Substanz, wenn man sich selbst ein gewisses Know-How erarbeitet hat. Über Anleihen wird m.E. hier etwas kurz und vorschnell hinweggegangen. In der jüngeren Vergangenheit haben Anleihen/Bonds aufgrund der niedrigen bis null oder gar Negativzinsen vs Inflation eine schlechte Performance gehabt. Man konnte im Handel noch gute Kurse erreichen, je niedriger die Zinsen wurden. Jetzt steigen aber die Zinsen und logisch wurden Anleihen mit niedrigen Zinsen reihenweise aus den Depots geworfen. ABER : Wenn man kurz vor Peak Zinsen Anleihen mit Zinscoupons von vlt 3/4/5% kauft und dann die Zinsen wieder fallen( das scheint allgemeiner Konsens zu sein) werden diese Bonds im Kurs steigen ! Genau der doppelte Verlusteffekt des letzten Jahres wird dann der doppelte Gewinneffekt sein. Profis (Banken, Wealth-Manager/Versicherungen) usw. werden diese Nummer spielen und dabei viel Geld bewegen. Möglicherweise wird dieses Geld dann dem Aktienmarkt fehlen, wenn die Zentralbanken die Geldschleusen weiter geschlossen halten oder nur zögerlich öffnen.
    Weiß nicht, ob hier geantwortet wird, aber Ihre Einschätzung dazu wäre interessant oder evtl. sind keine Erfahrungen mit Anleihen hier vorhanden. Man darf nie vergessen, das das Volumen der global Bondmarkets immer noch größer ist als das Volumen der global Stockmarkets. Außerdem schrumpfen die aufgeblähten Techs, vor allem die, die keine Dividenden zahlen volumenmäßig.
    Man war in den letzten Jahren gezwungen, sich Aktien zu kaufen, weils für Geld nichts mehr gab.
    Man sollte noch Verwahrgebühren zahlen. Jetzt kriegt man wieder Zinsen fürs Geld und je nach dem, wie hoch und wie die lange die Zinsen oben bleiben, gibts zu Aktien wieder viele Alternativen.
    Man muß sich eventuell auch nach dem Fallen der Zinsen ( bis dahin auf jeden Fall) auf längere Seitwärtsbewegungen einstellen.
    Bei Immobilien können wir die Problematik leicht am Kurs ablesen. Ein Blick auf Vonovia, Deutsche Wohnen, Tag Immobilien, Adler Group, Aroundtown, Corestate Capital und wie die ganzen Bewertungskünstler und Verschiebekünstler/Paradiesvögel alle heißen, reicht völlig. Die Frage ist nur, da die Börse meist ein halbes Jahr vorausschaut, ob wir die Tiefkurse schon gesehen haben und nicht hier schon antizyklische Chancen da sind. Hab aber selber noch keine abschließende Meinung dazu.
    Grüße und guten Rutsch allgemein allen Lesern hier.

    1. Hallo Thomas,
      unsere Artikelfrequenz ist wegen der ausführlichen Begründungen leider auch zurückgegangen, was in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie nicht hilfreich ist. Dieser Artikel entstand über mehrere Wochen mit Quellenmaterial mehrerer Monate; ebenso unser Artikel über China im Investmentkontext, der enorm aufwändig war. Aber uns ist ein gut fundierter Artikel lieber, als – wie Du schreibst – Substanzloses. Die Hoffnung ist natürlich auch, dass wir mit längeren Texten diejenigen Kommentatoren anlocken können, die zu einer zivilisierten Artikulation in der Lage sind und die übrigen abschrecken. 😉
      In Bezug auf Anleihen haben wir ja lediglich Anlageklassen angesprochen, und hier – unausgesprochen – die Marktdurchschnittsbetrachtung. Natürlich kann jemand mit Aktien(-Trading) mehr als 7% p.a. (nominal) rausholen, so wie man auch mit Anleihen im kurzfristigen Handel Geld verdienen kann, indem geschickt Zinsniveauänderungen ausgenutzt werden – sofern man sie richtig vorhersagt.
      Schaut man sich aber Anleihen in einer passiven Buy&Hold-Variante an, so ergibt sich nach unserer Erinnerung im 200-jährigen Schnitt, dass Aktien eine Rendite von etwa 7% p.a. bringen, während Anleihen im Schnitt bei 3-4 % ausliefen (beides nominale Renditen). In Bezug auf Letztere wäre aber die Antwort auf die Frage interessant, warum der Realzins seit Jahrzehnten sinkt und warum er nun steigen sollte. Nahezu jede Anleihe hat nach Abzug der Inflation eine negative Realverzinsung und darüberhinausgehenden Gewinn könnte man nur machen, wenn man Zinsänderungen korrekt vorhersagt. Jetzt Anleihen zu kaufen und darauf zu setzen, dass der Konsens in Bezug auf die Zinsentwicklung richtig liegt, ist ein ganz anderes Geschäftsmodell, als sich am Erfolg guter Unternehmen zu beteiligen. Kann man mögen, wir sind aber aufgrund der überzeugenderen – durchschnittlichen – Renditehistorie mit Aktien glücklich. Grundsätzlich sind sowohl Erfahrungen wie auch Handelserfahrungen mit Anleihen bei uns vorhanden; allein es mangelt nach wie vor am Anlass, Anleihen zu kaufen, wenn man Aktienvolatilität im Gegenzug für die höhere durchschnittliche Rendite aushält.
      Die Tech-Aktien würden wir ebenfalls als Profiteure von Zinssenkungen sehen – die Kursentwicklung wäre gegenüber Anleihen sicherlich besser.
      Den Satz „man bekommt wieder Zinsen fürs Geld“ können wir nicht nachvollziehen, denn der Zins gleicht ja nur den Inflationsverlust aus und das nicht einmal vollständig. Es gibt eine Untersuchung der Bundesbank, dass die Realrendite von Sparguthaben in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg im Schnitt immer um die Nulllinie tendierte. Es gibt also real letztlich keine „Zinsen“ im Sinne eines Ertrags, sondern mit dem Zins lediglich einen Inflationsschadensersatz. Mit dem Unterschied, dass der Zinsertrag besteuert wird, der Inflationsschaden aber voll durchschlägt – in Summe ist Zins-Sparen jedenfalls bei der Bank wahrscheinlich ein Verlustgeschäft.
      Auch bei Immobilien gilt: wenn die Immobilie im Wert nicht gestiegen ist, ist das nicht eine Wertsteigerungsrendite von 0 %, sondern eine von -10% p.a., da man sich aufgrund der Inflation vom gleichen Wert heute nur noch 90% gegenüber dem Vorjahr leisten kann.
      Für Immobilienaktien gilt das gleiche: gelingt es nicht, die Mieten mindestens mit der Inflationsrate zu steigern, wovon mindestens im Fall Vonovia auszugehen sein sollte, sinkt der tatsächliche, reale Wert der Immobilien sowie der Erträge. Ein anderer Kommentator meinte ja, lt. BGB gingen Preissteigerung in Höhe der Inflationsrate. Grundsätzlich mag es denkbar sein, dass Privatmieter z.B. Indexmietverträge abschließen. Das trifft aber auf den ganzen deutschen Mietvertragsbestand im Wesentlichen nicht zu. Dazu kommt, dass schon die Mieterbonität flächendeckende große Mietsteigerungen gar nicht hergibt. Es dürfte also höchst zweifelhaft sein, dass Vermieter keine Inflationseinbußen hinzunehmen haben. Die ganze Investmentthese zu Immobilienaktien als Inflationsschutz, wonach Mieten mit der Inflation einfach entsprechend angehoben werden können, stellt sich also als falsch heraus. Das hält uns aber tatsächlich nicht davon ab, Vonovia etc. auf dem jetzigen Niveau zu kaufen, denn wir gehen von einer Kursübertreibung nach unten aus.
      Beste Grüße vom Atypisch Still Blog

  3. Vielen Dank für diesen umfangreichen, unaufgeregten und profunden Beitrag. Sehr lesenswert!
    Wünsche allseits ein gesundes, erfolgreiches und friedliches Jahr 2023.

  4. Ich danke für die doch ausführliche Antwort. Immobilien:
    1.) Vonovia z. Bsp. gibt an, etwa 37,78% vom Gesamtvermögen durch/mit langfristigen Verbindlichkeiten zu halten. Dazu kommt etwa 8,50 Prozent kürzere Verbindlichkeiten, macht in Summe so schlappe 45% . Man kann dann schnell ausrechnen, um wieviel der Kapitaldienst pro halben Prozentpunkt Zinssteigerung steigt. Je länger das Zinshoch dauert, desto mehr muss nachfinanziert werden.
    2a.) Durch die Inflation steigen die Instandhaltungs/Sanierungskosten. Handwerker werden knapper und lassen es sich auch bezahlen.
    2b.) Das eigene Personal will auch mehr Lohn/Gehalt.
    3.) Vorfinanzierung der steigenden Betriebsnebenkostenabrechnung bei steigendem Inkassorisiko und schwächer werdender Solvenz der Mieter.
    4.) Die Vorstände von Immobiliengesellschaften berichten, dass die Banken keine Finanzierung mit einem LTV über 50% mehr ausreichen.
    5.) Schuldenabbau durch Verkäufe bestehender Einheiten wird schwer, da potentielle Käufer sehr viel Eigenkapital aufbringen müssen. Das grenzt potentielle Käufer stark ein und die können die Preise drücken. Notverkäufe machen also keinen Sinn.
    6.) Adler Group hat seine Anleihegläubiger mit ins löchrige Boot nehmen müssen, um eine Pleite abzuwenden. Die müssen in den sauren Apfel beißen, weil bei Notverkäufen sehen sie noch weniger von ihrem Geld wieder. TAG hat die Dividende vollständig gestrichen. Wer folgt noch?
    7.) allgemein steigendes Inkassorisiko.
    8.) bei fallenden Immobilienpreisen müssen die Bewertungsmodelle nach unten angepaßt werden.
    Hab ich was vergessen ?
    Ich warte also erst mal ab, was die Notenbanken machen.
    Grüße. wollte noch mehr schreiben, aber für heute reicht es erst mal.

    1. Völlig richtig, aber warum sollte das als bekannte Tatsachen nicht auch alles im derzeitigen Kurs mittlerweile schon eingepreist sein?

  5. Vielen Dank für eure interessanten Gedanken und Perspektiven.
    ein Lichtblick unter den Finanzblogs, eure Artikel lese ich immer sehr gerne.
    Am Ende bin ich zwar nicht restlos überzeugt, dass Russland tatsächlich so weit gedacht hat, wie beschrieben, aber dennoch ist es interessant, was alles so passiert ist was einem gar nicht bewusst war.
    Ich glaube, dass am Ende auch viele Dinge in der Retrospektive dann verzerrt interpretiert werden.

    Was bedeutet es für uns Investoren?
    Geduldig aufsammeln, und nicht vom noise ablenken lassen.
    Trends halten ja stets etwas länger als gedacht, und bei den zugegeben partiellen ähnlichkeiten zu den 70er und 80er Jahren ist man mit Value gut gefahren, weshalb ich meine Zukäufe weiter in der Richtung tätige.
    Die Inflation wird uns global betrachtet vermutlich länger begleiten als gedacht.

    Aktuell denke ich viel darüber nach, wie ich mein Einkommen weiter erhöhen kann um die Inflation mindestens auszugleichen und überhaupt Pulver zum investieren zu haben.

    LG und vielen Dank
    Joschi

  6. „Dieser Artikel entstand über mehrere Wochen mit Quellenmaterial mehrerer Monate.“
    Das merkt man, vielen Dank für’s Schreiben. Mich würde tatsächlich euer Schreibprozess interessieren. Verfolgt ihr mehrere Themen gleichzeitig in unterschiedlichen Phasen (Recherche, Schreiben) oder immer nur einen?
    Guten Rutsch ins neue Jahr!
    Jenni

    1. Hi Jenni,
      der Prozess ist aufgrund notorischen Zeitmangels eher unstrukturiert. Was wir aber machen ist einfach regelmäßiger Nachrichtenkonsum und Notizenmachen bei interessanten Ereignissen. Es gibt ja schon permanent Themen, auch viele, bei denen wir dann einfach zu langsam sind zum Kommentieren (bspw. SPACs). Aber China und Russland waren aus unserer Sicht in der letzten Zeit von deutlich größerem Interesse, oder was uns ja auch permanent nervt, die zu große Bühne, die Crash-Propheten geboten wird. Am Ende wird dann eben ein mehr oder weniger strukturierter Artikel draus 😉 Es ist also nicht so, dass wir uns speziell ein Thema vornehmen und dazu erst recherchieren, sondern eine permanente Recherche zu vielen Themen aus dem Nachrichtenkonsum heraus betreiben und das dann „bloß kondensieren“.
      Gleichfalls guten Rutsch!

  7. Was für die eigene Depotdynamik mindestens genauso wichtig wie die Kapitalallokation ist, ist die Aufmerksamkeitsallokation. Zeit + Lernmanagement. Welche Blogs machen Sinn und welche nicht. Welche Zeitungen (Wsj, Barrons, FT, Bloomberg) machen unter Kosten Nutzenaspekten Sinn? Wer bringt einen vorwärts und wer liefert nur bla? Suche nach guten englischen Blogs ? kein natives Englisch? -> Englisch lernen. btw Google Übersetzer und Browser liefern schnell und pünktlich.
    Man findet zu Finanzthemen/Stockresearch bei Google oft überraschend bessere und informativere Antworten, wenn man die Fragestellung auf englisch stellt. Man kann sich zur Not vom Google Übersetzer seine Fragestellung auf englisch übersetzen lassen und sie dann Google stellen. Wenn man etwas viel und oft tut, wird man darin automatisch immer besser . So ist das auch mit dem Lernen. Man findet ganz zufällig immer wieder neue Websites mit gutem Kontent. Gesundes Mißtrauen. Immer wieder Zahlen / Entwicklungen auf Plausibilität prüfen.
    Und man kommt dann auch im Depot voran. Man könnte vereinfacht auch sagen, richtiges Lernen lernen.
    Nun Ja, Alles Gute und ein glückliches Händchen den Lesern hier zum Neuen Jahr.

  8. Großes Lob für diesen sehr gut recherchierten Artikel.

    Auch wenn die Frequenz Eurer Beiträge etwas gesunken ist; man wartet gerne auf Qualität!

  9. Ein großes Lob für diesen wirklich hervorragenden und mit zahlreichen Quellen versehenen Artikel. In der Qualität und Detailtiefe (gerade für eine Investmentseite) erfreulich detailliert und faktentreu. Danke sehr!

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